Home / Press / Texts / Josep Lluís Peris

Texts

Komposition und Ebenen als lyrische Ausdrucksform: Die Malerei und Kunst von Silvia Lerín

Text des Cracks in Matter-Katalogs herausgegeben von OAM Palau de la Música in Valencia. 2009. Legal Deposit: V-4479-2009 / I.S.B.N 978-84-692-7434-7 

Eine der großen Errungenschaften der heutigen malerischen Praxis ist und bleibt, die Abhandlung und den ganzen Prozess der Kreativität innerhalb der Betrachtung der Realität, an sich eigenmächtig und subjektiv, zu plazieren. Allein die psychische und physische Beschreibung, das Sehen, das Aussuchen und das Wahrnehmen des “Objekts” als Realität wird zum Kernpunkt der Überlegung der Malerei und vielen der malerischen Ausdrucksformen der heutigen Kunst. Die verschiedenen Verhältnisse zwischen Subjekt und Objekt, das heißt zwischen dem Maler und seinem Werk oder dem Betrachter und dem Kunstwerk, ergeben eine neue Erklärung und Wahrnehmung der Realität und dadurch verschiedene und mehrere Nachforschungen und Vorschläge der oftmals paradoxen und widersprüchlichen Kunst.

Ohne mich auf direkte Weise auf die Konzeptkunst zu beziehen (in der die Forschung nach den Grenzen des Verhältnisses zwischen Objekt und Subjekt ein größeres Gewicht trägt) finde ich es trotzdem angebracht zu erwähnen, wie einige der künstlerischen Ausdrucksformen energisch zum Abbau des Objekts und dessen Bilder und zum Prinzip des veränderlichen Subjekts beigetragen haben. Sowohl der Konstruktivismus, der Expressionismus als auch der abstrakte Informel haben von verschiedenen Standpunkten aus gegenseitig und ergänzend dazu beigetragen, dass in der heutigen Kunst das Konzept des Kunstwerkes neu erfasst wird. Gleicherweise haben sie eine neue Hierarchie und Bedeutung der Formen, Farben und Materie angegeben und eine neue Arte der Bemessung und der Verbindung der Elemente mit ihrer eigenen Gegenständlichkeit aufgestellt. Und genau auf diese Art und Weise muss man sich der Betrachtung der besonderen Kunstwerke von Silvia Lerín (Valencia 1975) nähern.

Die analytische und konstruktivistische Vorhergehensweise, mit der sie die Malerei ausübt, ermöglicht ihr, ihre Untersuchung in eine sehr komplexe, ehrliche und gewagte Richtung zu lenken. Die Symbiose der Gegenständlichkeit der Malerei und der Farben führen sie zu einer tiefen und beunruhigenden Neuauffassung der Komposition und des Raums, ein authentisches Spiel der Ebenen, das letzten Endes zum Hauptmerkmal ihrer malerischen Ausdrucksweise wird. Wie auch andere hervorragende Künstler ihrer Generation wurde Silvia Lerín an der Fakultät für Schöne Künste der Politechnischen Universität Valencia ausgebildet, wobei viele von ihnen ihre Untersuchungen und künstlerischen Vorschläge auf die Malerei, die Farbe oder die Materie konzentriert haben. Silvia Lerín erlangt jedoch ganz besonders den selbständigen Wert der Malerei, denn der Abbruch mit der Darstellung durch ein Bezugssystem und die Annäherungen zu den Grundlagen der sprachwissenschaftlichen Abstraktion sind ein Teil ihrer Strategie und ihrer Kunstwerke.

In der Ausdrucksweise der Künstlerin bei jedem ihrer Werke gibt es eine besondere Besorgnis um das Verhältnis der Komposition der Ebenen und dem Spielraum innerhalb des Bildes, so wie zwischen den Ebenen selbst. Ihre Malerei ist praktisch das Resultat einer mathematischen Rechnung, formuliert durch ein abgeschätztes Verhältnis zwischen den Grenzen der Farbe und der Textur, zwischen dem Platz der Farbebenen und den Grenzen des Umfangs der malerischen Materie.  Die Einfügung und der Eingriff dieser miteinander sprechenden Ebenen, die rechtwinkligen Enden der Leinwand überschneidend, hinterlässt eine Widerspiegelung der Falten, Rillen und Risse, sich dabei in einer harmonischen, feinen und langsamen Bewegung rührend. Dies sind einige der anschaulichsten und eigensten Eigenschaften der künstlerischen Ausdrucksform, die die Künstlerin Silvia Lerín definieren. In ihrem Streben nach einer perfekten und makellosen Symbiose zwischen dem rein Malerischen und einer lyrischen und persönlichen Ausdrucksweise hat Silvia Lerín ein einheitliches und planimetrisches Universum der Farben ohne Formen geschaffen, in dem eine starke materielle Kraft durch Acrylfarben, Marmorpulver und Seidenpapier auf Leinwand erzeugt wird. Dort findet das Spiel der kalten und warmen Farben statt: Schwarz und eine unmögliche Geometrie der Ebenen ergeben eine mächtige Atmosphäre des Lichts, der Stille und der  inneren Sammlung.

Durch ihre anregenden und feinen Farbkontraste lösen ihre Kunstwerke den Gegensatz der Spannungen in der Komposition der Kräfte, die aus den Ebenen emporsteigen und sich überschneiden. In diesem Denkspiel der Texturen, der  Durchsichtigkeit, der farblichen Überladung, der Linien, verfasst die Malerin eine plastische, abstrakte, jedoch genaue Symphonie, in der man jedes Element der Dodekaphonie, jeden Bestandteil erkennen kann. Dieses Musikstück lässt durch Formen, Farbe und Flächen den Sinn und Zweck der Gesamtheit ihres Kunstwerkes, ihrer ästhetischen Ausdrucksform, durchschimmern.

Die sichtbaren Risse, die Rillen, und die Einschnitte, mit denen die Malerin die Ebenen des Bildes abgrenzt, sind nichts weiteres als Grundsteine, mit denen sie eine malerische Erzählung erbaut. Wahrscheinlich durch den Strukturalismus beeinflusst versteht die Malerin ihr Werk als ein Ganzes, eine Art mehrdeutiges und nicht eindimensionales Universum, das man durch die Analyse der Einzelteile und dem Gefüge erlebt. Das Spiel der Einfügung, der Kreuzung und Überschneidung der Ebenen, die angeblich entgegengestellten, durch die planimetrische Gestik vorgeschlagenen Formen werden durch die lyrische und rationale Sensibilität der Künstlerin zum wesentlichen Teil der Ausdrucksform von Silvia Lerín.

Ihre persönliche Art, die im engen Zusammenhang mit einer ausgeprägten Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit verbunden ist, ernährt und ergänzt sich durch einen empirischen Rationalismus, mit dem die Malerin das Verfahren und die Gestaltung von abstrakten und nicht förmlichen Bildern darzustellen weiß.

Die Kratzer, das Bestreichen und die Schichten über der materiellen Oberfläche erlangen symbolische Bedeutungen und hier sieht man in ihrem Werk die künstlerische Aussprache. In diesem Sinne kann man an dem spektakulären dreiteiligen “Hendiduras en la materia” (2009, 180 x 540 cm) sehen, wie die Malerin eine wahre und starke Spannung zwischen dem abgründig schwarzen Hintergrund und einer kalten völlig in blau umarmte Ebene darstellt, nämlich eine abstrakte, rissige und brüchige Geographie, die innerhalb dieser gefrorenen Landschaft des neutralen Blau eine fast organisches Rot zum Vorschein bringen lässt.

Wie auch in anderen ihrer Werke lässt die Malerin verschiedene Bereiche, die  sich zwischen den beunruhigenden Grenzen der  Kreuzung von Flächen bewegen, aufeinandertreffen. Sie eifert den extremen, jedoch feinen und unbekannten Kräften hinterher, die zwischen Farbladungen, zwischen zwei abstrakten Geographien aus unebener Materie, zwischen zwei großen karminroten Flecken emportreten. Als handele es sich um eine schematische Darstellung einer Bewegung tektonischer Platten auf der Erde, die gerade kurz vor der Kollision oder der Trennung ständen. Diese Flächen beinnhalten oftmals ein Universum an Materie und Farbe, das innerhalb der Ausmaße der rechteckigen Leinwand gefangen ist.

In “Hendiduras sobre rojo” (2008, 180 x 180 cm) zeigt die Malerin uns in einer Art rituellen Erdrutsch ein anderes Register von malerischer Spannung, indem sie die rote Farbladung der schwarzen entgegensetzt, wobei die Oberfläche an den zufälligen Vorgang des Abreissens erinnert und wobei der blaue Farbfleck sich jedoch  als Brücke beider Flächen zu erkennen gibt.

Auch bei den verschiedenen Skulpturen aus Stahl, die uns die Künstlerin zeigt, nähern wir uns dem Universum der Strukturen und Ebenen, durch die die Malerin ihre künstlerische Ausdrucksweise aus Materie und Farbflächen vorzeigt. Hier fügen sich die Räumlichkeit, das Volumen und die Leere  in einem anschaulichen Spiel der unmöglichen Architekturen, wobei die Kunst der Formen sich mit der Übung der präzisen und ausgewogenen Harmonie der planimetrischen Elemente vermischt. Der obere Raum und die Leere einerseits, und der glatte und abgegrenzte Raum anderseits bringen die Vortäuschung von Tiefe mit dem wunderbaren Talent der Künstlerin in Einklang. Es ist ein Spiel der Ebenen und Flächen, ein trompe l’oeil, der Farben, der Texturen und des Lichts, das uns die hervorragende und faszinierende künstlerische Ausdrucksform von Silvia Lerín schildert.

Josep Lluís Peris

Kunstkritiker, Valencia, Oktober 2009

en_GBEnglish (UK)